Augustinus: Sünde

Sünde

Voraussetzungen

Ein zweifaches Leben gibt es: ein leibliches und ein geistiges. Wie die Seele das Leben des Leibes, so ist Gott das Leben der Seele. Wie stirbt der Leib? Indem die Seele ihn verlässt. Der

Leib ist tot ohne die Seele, die Seele ist tot ohne Gott.

Du wehklagst über einen Toten; noch mehr traure über den Sünder, den Gottesfernen, den Glaubenslosen! Es steht geschrieben: «Sieben Tage soll dauern die Totenklage» – aber die Trauer über den Toren und Gottlosen soll dauern alle Tage.‘
Gottes Gegenwart lebt im Geist und Gewissen. In der Vernunft eines Menschen, der der Freiheit mächtig ist, lebt ein Gesetz, von Natur ins Herz geschrieben; es mahnt ihn, einem andern nicht zu tun, was er selbst nicht leiden möchte. Auch die verderbteste Seele, wenn sie nur eben fähig ist zu denken, hört im Gewissen die Stimme Gottes. Woher sonst hätten die Gottlosen jene Erkenntnis der sittlichen Normen, die doch offenbar nicht die ihren sind? Aus ihrer eigenen Natur können sie dieselben unmöglich ablesen; denn diese ist veränderlich, jene Normen aber sind ohne Wandel. Aus ihrem Geist können sie dieselben ebensowenig geschöpft haben; denn es sind Normen der Sittlichkeit – die ihnen abgeht. Wo anders also steht geschrieben dieses heilige Gesetz, als im Buche jenes Lichtes, das da «Wahrheit» heisst, aus welchem jede sittliche Regel abgeleitet und in das Herz des Menschen eingetragen ist und gleichsam eingeprägt, wie das Bild des Siegelrings sich auf das Wachs überträgt und dabei doch haften bleibt an dem Ringe?

Angesichts der Verschiedenheiten in allen möglichen Bräuchen und Gewohnheiten glaubten einige, es gebe überhaupt keine Norm des sittlich Guten in sich, sondern jedes Volk halte je-
weils seine Gewohnheiten und Sitten für gut. Aber man hat sich dabei nicht vergegenwärtigt, dass jener Grundsatz: «Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern
zul» durchaus nicht von nationalen Verschiedenheiten berührt wird, die sich von einem Volk zum andern finden. Und wenn dieser sittliche Grundsatz in seinem religiösen Zusammenhang
empfunden wird, so trifft er eben damit alle Verbrechen und Laster, die es ja alle mit dem Nächsten zu tun haben.

Gott also ist es, der im Gewissen des Guten wie des Bösen spricht. Denn Ja sagen zu seinem besseren Wesen, Nein zu seiner Sünde, das kann in rechter Weise nur, wem in der Stille des Herzens die Stimme der Wahrheit das Wort des Lobes oder des Gerichtes spricht. – Die Wahrheit aber ist Gott.

Unter dem Einfluss des Lichtes Gottes vermag sich die Seele Bescheid zu geben als vernünftiger Geist. Da empfängt sie den Bescheid, der unverrückbar in der Ewigkeit seines Urhebers begründet ist. Da liest sie etwas, was Ehrfurcht heischt, was Lobpreis, Liebe, Sehnsucht und Verlangen weckt. Noch hat sie es nicht, noch fasst sie es nicht, doch wie ein Leuchten geht es
über sie hin, wenn sie auch noch nicht fähig ist, darin zu verweilen. So sammelt sie ihre geistige Kraft auf das, worin sie Heil erfahren kann: sie betet.”

«Sünde» bedeutet Tat oder Wort oder Begierde gegen jenes ewige Gesetz – das nichts anderes ist als Gottes Plan oder Wille, der die natürliche Ordnung eingehalten wissen will.”

Ein Fehlgriff deines Triebes in der Wahl deines Gutes ist die Sünde. Denn in jeglicher Sünde, die du tust, langst du aus nach einem Gute und ersehnest eine Art Befriedigung. Werte sind es, die du suchest; Übel aber werden sie für dich, wenn du Den hintansetzest, durch den allein sie gut sind. Wie der Wille dadurch gut ist, dass er Gott anhängt, dem gemeinsamen Gut aller Wesen, so wird er verkehrt und sündigt, wenn er dich vom höchsten und allgemeinen Gut abkehrt und sich dem selbstischen Gut zuwendet, sei es im Bereiche des Geistes oder des Leibes.

Oder meinst du etwa, du habest Freude an der Sünde als solcher? Nein, etwas anderes zieht dich an, wodurch du sündigst:
Indem du ein geschaffenes Gut wider die Ordnung liebst – gegen rechten und erlaubten Nutzbrauch, gegen des Schöpfers Willen und Norm -: dadurch sündigst du. Was Gott für dich
schuf, ist gut; aber da sind höhere Güter, hier geringere: hier zeitliche, dort ewige. *

Niemand sage: «Warum soll ich nicht lieben dürfen, was Gott schuf?!» – Gottes Geist sei mit dir, auf dass du erkennest, dass alles gut ist, was Er schuf! Alles ist gut, sofern es etwas ist; es stammt notwendig vom wahren Gott, von dem alles Gute ist. Nicht verbietet dir Gott, Seine Geschöpfe zu lieben – wenn du nicht deine Seligkeit suchst in der Liebe zu ihnen, sondern so sie gut findest und rühmest, dass du den Schöpfer vor allem liebst.

Mancherlei Güter gibt uns Gott, die um ihrer selbst willen begehrenswert sind: Weisheit, Wohlbefinden, Freundschaft. Ja alles Irdische in sich ist gut – und damit man es nicht für etwas

Böses halte, wird es auch den Guten gegeben ; damit es aber nicht für Großes oder für Höchstes gelte, wird es auch den Bösen gegeben, z.B. Gold und Silber; würde es nur den Bösen gegeben, gälte es mit Recht als etwas Böses – würde es nur den Guten gegeben, gälte es mit Recht als etwas sehr Gutes; und umgekehrt: würde es nur den Bösen mangeln, erschiene die Armut als eine große Strafe – würde es nur den Guten mangeln, erschiene die Armut als großes Glück. Willst du also erkennen, dass man solches gut haben kann: siehe, auch Gute haben es! Willst du erkennen, dass man nicht dadurch gut wird: siehe, auch Böse haben es!?

Wohlbefinden und Freundschaft rechne ich zu dem, was man als würdige Ziele anstreben soll. Zu ersterem gehört Leben, Gesundheit, vollkommene Entfaltung des Geistes und des Leibes. Auch der Freundschaft sind nicht zu enge Grenzen zu ziehen: sie umfasst alle, denen Liebe und Wertschätzung gebührt, wenngleich sie dem einen mit größerer, dem anderen mit geringerer Neigung sich zuwendet. Freilich, in besonderem Maße beglücken uns mit Recht diejenigen, die uns in heiliger und aufrichtiger Liebe wiederlieben. Darum sollen wir beten, dass wir solche Bande des Herzens bewahren, wenn sie uns gegeben sind, und sie gewinnen, wenn wir sie entbehren.

Die vernünftige Seele kann sich also auch irdischer und leiblicher Befriedigung wohl erfreuen, sofern sie sich nicht mit Preisgabe des Schöpfers dem Geschöpflichen hingibt, vielmehr diese
Befriedigung in den Dienst des Schöpfers stellt, der solches aus überströmender Liebesfülle schenkte. Durch geordnete Liebe heiligt der Mensch die Seele wie den Leib.

Auch den Leib soll der Mensch in Ehren halten und ihn gesund und unversehrt erhalten. Nicht umsonst hat er seine Schönheit, das feine Verhältnis seiner Glieder, die Einrichtung der Sinne, die aufrechte Gestalt und so manches andere, was dem unbefangenen Betrachter Staunen einflößt. Aber es gibt auch ein Höheres als Gesundheit und Wohl des Leibes. Haben nicht viele Menschen Schmerzen und Verstümmelungen ertragen um höherer Güter willen? Man wird ihnen deshalb Ehrfurcht vor dem Leibe nicht absprechen dürfen, wenn sie anderes höher schätzten.

Die gesamte Wirklichkeit lässt sich betrachten unter dem Gesichtspunkt des Genusses, des Gebrauches und der Verbindung beider. Was zum Genuss bestimmt ist, das beseligt uns; was zum Gebrauch bestimmt ist, soll uns fördern in unserem Streben nach Beseligung, soll gleichsam Handhabe sein zum Gewinn und zum Besitze dessen, was uns selig machen kann. Mit anderen Worten, genießen heisst: etwas um seiner selbst willen in Liebe zugetan sein; gebrauchen aber: ein Ding der täglichen Verwendung benutzen zur Erlangung des wahrhaft Liebenswerten – denn der unerlaubte Gebrauch verdient eher Missbrauch zu heissen oder Fehlgebrauch.

Den Guten ist es eigen, dass sie die Welt gebrauchen, um sich Gottes zu erfreuen; hingegen möchten die Bösen Gott gebrauchen, um die Welt zu genießen – sofern sie überhaupt glauben, dass ein Gott sich um menschliche Dinge kümmert.
Nachdem der Mensch das Alter erreicht hat, wo er zum Gebrauch der Vernunft erwacht ist, kann er – durch Gottes Kraft gestützt – ein höheres Leben (als das bloß sinnliche) wählen, ein Leben, dessen Lust im Geiste, dessen Seligkeit innerlich und unvergänglich ist. Denn der Mensch hat eine vernünftige Seele.
Vom Gebrauch der Vernunft hängt es ab, nach welcher Richtung sie den Willen lenkt: ob nach den Gütern der äusseren und niederen oder nach den Gütern der inneren und höheren Ordnung; mit anderen Worten: ob sie sich das Sinnliche und Zeitliche als letztes Ziel setzt, oder sich im Göttlichen und Ewigen erfreuen will. Sie ist gleichsam in eine Mitte hingestellt: unter sich die sinnenfällige Welt, über sich den Schöpfer. Vom Irdischen zum Schöpfer ist nur ein Schritt; vom Schöpfer zu den Dingen ein tiefer Fall.”

Oder ist etwa der Mensch gezwungen, den bösen Begierden, die er im Herzen hat, zuzustimmen und wirklich zu sündigen? Das sei ferne! Etwas anderes ist es, böse Begierden im Herzen haben, etwas anderes ihnen «übergeben werden» (Röm 1,24)  nämlich so, dass man durch Zustimmung in ihre Gewalt kommt. Wozu sonst das Gebot: «Du sollst deinen Begierden nicht nachgehen!» (Eccli 18,30), wenn jemand schon dadurch schuldig wäre, dass er ihren Aufruhr, ihr Hindrängen zum Bösen spürt? Ist jemand genötigt, so dass er nicht anders kann, so sündigt er nicht dem Willen nach, da er mit Willen nicht beistimmt.

Die böse Lust ist nichts anderes als die Neigung der Seele, vergängliche, zeitliche Güter den ewigen vorzuziehen. Die Sünde aber ist die mit Willen vollzogene Abkehr vom wandellosen Gute und Hinwendung zu wandelbaren Gütern.”

Du kannst nicht zwei Herren dienen: das Ewige kannst du nur lieben, wenn du das Zeitliche nicht als Ziel deiner Liebe wählst.

Hältst du es mit der Welt, so kannst du Gott nicht lieben: dein Herz ist in Besitz genommen – unter «Welt» sind zu verstehen die Sünder, die keine andere Hoffnung haben als in dieser Zeitlichkeit. Die «Welt» ist schlecht, sofern die Menschen schlecht sind, denen die Welt mehr gilt als Gott. Niemand ist ohne Liebe – es fragt sich nur, was einer liebt.

Einer jeglichen Liebe wohnt eine Triebkraft inne. Jede Liebe führt entweder aufwärts oder abwärts. Willst du wissen, von welcher Art deine Liebe sei: gib acht, wohin sie dich führt! Die dem Geld anhangen, scheuen keine Seefahrten in stürmischer Jahreszeit und glühen von Gier zu besitzen so sehr, dass sie die strengste Kälte nicht scheuen, von Stürmen sich schütteln, von den Wogen umherwerfen, von unsäglichen Gefahren bis an den Rand des Todes sich treiben lassen. Wie die christlichen Martyrer zu Christus, so sprechen sie zum Golde: «Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag! Wer wird uns scheiden – (mit ihrem Herzen sprechen sie so, auch wenn sie es mit der Zunge nicht wagen) – wer wird uns scheiden von der Liebe des Geldes? Trübsal oder Kummer oder Verfolgung?» (vgl. Röm 8,35). Ihnen missfällt Christus, weil er keinen goldenen Leib hatte.

Wesen der Sünde

Woher also die Sünde? Vom ungeordneten Gebrauch der Dinge, die der Mensch zum Gebrauch empfangen hat. Der Abfall von Gott erfolgt nicht zu Bösem, d. i. zu bösen Wesenheiten, sondern böse, d. i. gegen die Bestimmung der guten Wesenheiten: vom absoluten Sein zum relativen Sein. Die Habsucht ist kein Fehler des Geldes (das ein Gut ist), die Ausschweifung kein Fehler des Leibes, der ein Gut ist, Prahlsucht kein Fehler des Ruhmes, Hochmut kein Fehler der Macht – sondern in all dem liegt der Fehler bei denen, die solcher Güter in verkehrter Weise, mit Hintansetzung des Höheren sich bedienen. Der Stolz äfft nach die Erhabenheit – während Du, o Gott, allein erhaben bist über alles! Neugier möchte als Wissensdurst erscheinen – während Du alles weisst bis auf der Dinge Grund!

Sogar Unwissenheit und Beschränktheit birgt sich unter dem Namen Einfalt und Unschuld – doch nichts Einfaches ist als Du! Trägheit schielt nach dem Schein der Ruhe – wo aber ist sichere Ruhe ausser bei Dir? Verschwendung möchte als Freigebigkeit erscheinen – Du bist der reiche Spender aller Güter! So buhlt die Seele, die sich von Dir abkehrt und ausser Dir sucht, was sie nirgend rein und lauter findet als in der Rückkehr zu Dir! So ahmen verkehrt Dich nach, die von Dir gehen und wider Dich aufstehen! Aber auch da sie so Dich nachahmen, geben sie Zeugnis, dass Du der Schöpfer alles Wesens bist, und selbst der böse Wille ist noch ein beredtes Zeugnis für die Güte der Natur.
Wer kann zweifeln, dass alles, was wir böse nennen, nichts anderes ist als Verderbnis: ein verderbtes Gutes – und aller Schaden, der aus der Verderbnis folgt, nichts anderes als Zeichen des erschütterten natürlichen Zustandes, eben weil diese Verderbnis nicht Natur, sondern gegen die Natur! Nimmer also ist die Natur als solche böse; nicht in den Dingen liegt das Böse, sondern in ihrem unrechten Gebrauch.”

Es ist ein großes Elend für den Menschen, nicht mit Dem zu sein, ohne den er nicht sein kann. Wer nicht tut, was er schuldig ist, muss unausweichlich leiden, was er schuldig ist. Denn so mächtig ist das Sittliche, dass niemand sich von seiner Seligkeit entfernen kann als zur Unseligkeit.

Jeder ungeordnete Geist ist sich selbst zur Strafe. Die sinngemäße Strafe der Sünde ist, dass man verliert, was man nicht gut gebrauchen wollte. Denn so gut und schön die Kreatur, im Dienste Gottes verwendet, ist – wird sie geliebt von einer Seele, die Gott nicht liebt, so wird sie zwar selbst nicht böse, aber weil die Begierde, mit der sie geliebt wird, böse ist, rächt sie sich an dem Liebenden, verstrickt ihn in Schmerz und speist ihn mit falschen Genüssen – «falsch», weil sie nicht bleiben und nicht sättigen, sondern leidvoll aufreiben. Denn wenn Raum dir Dinge bietet, die zur Liebe locken – Zeit entreisst sie, kaum dass wir sie lieb gewonnen und hinterlässt der Seele nur ein Wirrsal von flatternden Bildern, die das Begehren vom einen fort zum andern jagen. So wird unruhevoll und müde unser Herz – nur des einen, eitlen Wunsches voll, zu besitzen, wovon es besessen.

Leichter ist es für solche, die Gott lieben, die schlimme Begierde auszurotten, als für solche, die die Welt lieben, auch nur einigermaßen sie zu stillen. Die Welt hält nicht, was sie versprochen; sie ist lügnerisch und täuscht. Unaufhörlich hoffen manche Menschen auf dieser Welt – wer gelangt zu allem, was er hofft? Aber mag er auch vieles erreichen – kaum berührt, verwelkt es ihm.

Neue Wünsche steigen auf, neue liebe Dinge erspäht das Begehren – sind sie gekommen, verblassen sie alle. Dir, o Seele, genügt nur Der, der dich geschaffen hat; was immer du sonst ergreifst, ist elend. Unglücklich ist jede Seele, die gefesselt ist vom Irdischen. Der Verlust gibt ihr einen Riss: dann fühlt sie das Elend, das sie (schon vor dem Verluste) beklagenswert machte.‘!

Die sündige Seele ist die schlechte Seele, schlecht in dem Maße, als sie vom höchsten Sein zum niederen herabsinkt und dadurch selbst erniedrigt wird, und je niedriger, um so näher dem Nichts. Gott verlässt niemand, der nicht ihn verlässt,

Aus dem verkehrten Willen entsteht die Begierde, und wenn man der Begierde dient, wird sie zur Gewohnheit, und wenn man der Gewohnheit anheimgefallen ist, wird sie zur Notwendigkeit. Die Sünde wird durch Gewohnheit alltäglich, sie wird hingenommen, als wäre sie nichts. Der Mensch wird schwielig, er hat die Empfindung verloren. Was weit in der Zersetzung vorgeschritten ist, das schmerzt nicht mehr – man wird es deshalb nicht für gesund halten, sondern für abgestorben. Wenn es verletzt wird und schmerzt, so ist es notwendig gesund oder ist doch noch Hoffnung auf Gesundung; was aber faul ist, schmerzt nicht mehr. Eine schreckliche Art des Todes: böse Gewohnheit.

Das ist nach ewigem Gesetz der Anfang der Strafe für die Seele, die sich von Gott abwendet: die Verblendung. Gerechte Strafe der Sünde ist es, dass ihr die Fähigkeit für das Gute verloren geht, wenn sie von dieser Fähigkeit keinen Gebrauch machte, da es noch leicht war – hätte sie nur gewollt. Wer wider bessere Erkenntnis das Gute nicht tut, verliert auch das Wissen um das Gute; und wer das Gute nicht tun wollte, da er es konnte, verliert die Fähigkeit zum Guten, wenn er es möchte.
Gut ist Gott – gerecht ist Gott. Er kann Menschen ohne ihr Verdienst retten, weil Er gut ist; Er kann keinen ohne Missverdienst verdammen, weil Er gerecht ist. Wenn es von einem Menschen heisst, er werde «seinen Begierden übergeben» (Röm 1, 24), so wird er schuldig, weil er – von Gott nicht weiter gehalten – den Begierden nachgibt und zustimmt, ein Besiegter, ein Gefangener, verschleppte Beute. Denn von wem einer besiegt ist, dem gehört er als Sklave, und die folgende Sünde ist die Strafe der vorausgehenden.

An keinem Lebenden aber soll man verzweifeln. Auch bei Gewohnheitssündern, auch bei sittlich verdorbenen Menschen ist die Kraft Christi nicht zu gering zur Erweckung.

Täglich sehen wir Menschen, die ihre böse Gewohnheit ablegen und dann besser leben als ihre früheren Tadler. Du verabscheust vielleicht Menschen; aber siehe, selbst die Schwester des Lazarus (wenn es anders dieselbe ist, die die Füße des Herrn salbte und mit ihren Haaren trocknete, nachdem sie mit ihren Tränen dieselben benetzt hatte) – dieses Weib ward in besserem Sinn erweckt als ihr Bruder: von der schweren Last ihrer sündigen Gewohnheit ward sie befreit; es ist die bekannte Büßerin, von der es hieß: «Ihr wird viel vergeben, weil sie viel geliebt hat» (Lk 7,47).

Da ist einer in der Stimmung eines Gladiators, am Leben verzweifelnd: er tut noch, was er kann, um seine Gier und Lust zu sättigen – weil ein Schlachtopfer auf alle Fälle. Die Verzweiflung richtet solche zugrunde. Ihnen tritt als Retter gegenüber Gottes Wort, der ihre Gedanken erspäht hat: «Zu welcher Stunde auch der Sünder umkehrt, um Gerechtigkeit zu üben: ich will vergessen alle seine Missetaten» (Ez 18,21).

Nur durch den Willen sündigt man. Der Wille ist es, von dem sowohl Sünde ist als rechtes Leben.

Der böse Wille schon für sich allein ist Sünde, auch wenn es nicht zur Tat kommt, d. i. wenn jemand nicht die Macht hat.
Laster und Tugend unterscheiden sich nicht durch das Tun an sich, sondern durch die Absicht. Das Tun kann sündelos erscheinen und ist es doch nicht, wenn es nicht zu dem Zweck geschieht, zu dem es geschehen soll. Somit kann gut sein, was ein Mensch vollbringt, ohne dass er selbst gut handelt. Und nicht alle Laster sind Gegensätze zur Tugend: es gibt auch solche, die sozusagen hart an die Tugend grenzen und ihr zwar nicht wirklich, aber zufolge eines Scheines ähnlich sind, wie z.B. die List der Klugheit ähnlich ist.

Verborgen ist ein gutes Herz, verborgen ist ein böses Herz. Ein Abgrund ist in diesem wie in jenem. Aber vor Gott, vor Dem nichts verborgen, liegt es hüllenlos, und Er wirkt in allen Abgründen, was Er will.

Durch den Willen also geschieht die Sünde. Die Begierlichkeit aber ist für den Wiedergeborenen nicht mehr Sünde, wenn man ihr nicht zustimmt zum Bösen – wenn die Königin, die geistige Seele, nicht ihre Glieder preisgibt zu solchem Tun. In übertragener Ausdrucksweise freilich wird Begierlichkeit «Sünde» genannt, sofern sie aus der Sünde stammt und – falls sie obsiegt – Sünde wirkt. Gleichsam Tochter der Sünde, wird sie, wenn ihr der Mensch das Jawort gibt zum Bösen, auch die Mutter vieler Sinden. Den Getauften ist sie erlassen, nicht als ob sie nicht mehr da wäre, sondern indem sie nicht mehr als Sünde angerechnet wird. Ihr (Erb-) Schuldcharakter ist gelöst, aber sie selber bleibt, bis durch fortschreitende Erneuerung des inneren Menschen all unsere Schwäche geheilt wird -: an jenem Tage, da der sterbliche Mensch «die Unverweslichkeit anzieht» (1Kor 15,53).

Wir möchten wohl, dass keine Begierden seien; aber wir erreichen es nicht: ob wir wollen oder nicht, wir haben sie. Ob wir wollen oder nicht, sie berücken, schmeicheln, reizen, spornen,
stürmen an, wollen sich erheben. Man unterdrückt sie – man löscht sie nicht aus, solange «das Fleisch wider den Geist und der Geist wider das Fleisch begehrt» (Gal 5,17).

Eine doppelte Schlachtlinie führt die Welt gegen die Soldaten Christi: die eine schmeichelt, um zu täuschen, die andere droht, um mutlos zu machen. Ist nicht gerade das Leben der Besten
ein beständiger Kampf des Fleisches wider den Geist? Oder erfährst du solches nicht in dir? Wenn nichts in dir dem Höheren widerstrebt – sieh zu, wie es mit dem Ganzen steht! Wenn dein
Geist nicht ankämpft wider das begehrliche Fleisch – sieh zu, ob nicht vielleicht der ganze innere Mensch dem Fleisch Gefolgschaft leistet! Sieh zu, ob vielleicht deshalb kein Krieg ist, weil ein fauler Friede ist!

Es höre nicht auf der Kampf, da die Begierlichkeit, mit der wir geboren sind, nicht aufhören kann, solange wir leben. Sie kann verringert, aber nicht getilgt werden. Dieser Kampf ist das Leben der Heiligen.

Daher kommt es auch, dass der Mensch, auch nach der Taufe, nicht nur in Sünde fallen kann, sondern selbst bei redlichem Kampf gegen die Lust des Fleisches bisweilen von ihr zur Einwilligung gebracht wird und gewisse, wenn auch lässliche Sünden begeht. Daher hat er auch stets Grund zu sagen: «Vergib uns unsere Schuld !»

Gewiss ohne schwere Schuld, so glauben wir, kann wohl das sterbliche Leben heiliger Menschen sein, «wollten wir aber sagen, dass wir keine Sünde hätten, so betrügen wir uns selbst» (1 Joh 1,8). Niemand ist gut als Gott allein. Er ist gut, nicht bloß durch Besitz des Guten, sondern Er ist selbst das Gute, das Ihn gut macht. Wenn aber der Mensch gut ist, kommt es von Gott. «Gut» nennen wir den, bei dem das Gute vorwiegt über das Böse, und den heissen wir den Besten, der am wenigsten sündigt. Deshalb konnte der Herr diejenigen, die Er im Hinblick auf das Werk der Gnade «gut» nannte, auch «böse» nennen (Mt 7,11) wegen der Fehler, die mit der menschlichen Schwäche untrennbar gegeben sind. Und die Heiligen haben – nicht um Hochmut zu vermeiden, sondern einfach um die Wahrheit zu sagen, es allzeit abgelehnt zu sagen, sie hätten keine Sünde. Abgesehen von der heiligen Jungfrau Maria, von der mit Rücksicht auf die Ehre des Herrn, wenn von Sünden die Rede ist, nicht die Rede sein soll – sie also ausgenommen:
nimm alle heiligen Männer und Frauen, während sie hienieden lebten, und frage sie, ob sie ohne Sünde seien – was meinst du, dass sie antworten? Würden sie nicht mit einer Stimme rufen: «Wollten wir sagen, wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns» (Joh 1, 8).
Aber vielleicht die Apostel, die ersten Schafe der Herde Christi, die Hirten des Hirten – vielleicht hatten sie keine Sünde? Nein, auch sie hatten Sünde! «Also sollt ihr beten (spricht zu ihnen
derHerr) :,Vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern !‘’» Um was also beten die Apostel? Täglich beten sie um Vergebung der Schuld. Als Schuldner kommen sie, losgesprochen gehen sie – und kehren wieder zum Gebet als Schuldner. Aber vielleicht waren sie noch schwach zu jener Zeit, da sie dieses Gebet lernten, waren noch nicht «geistlich» – denn solche haben doch keine Sünde! Wie also, meine Brüder? Geistlich geworden hörten sie auf zu beten? So hätte doch wohl Christus ihnen sagen müssen: «Einstweilen betet noch so… !» -die Geistlichen hätte er anders lehren müssen ! Aber ein Gebet gab er.

Aufhebung der Sünde

Somit gehört Vergebung der Sünden zum Bestand der Kirche auf Erden. Denn auch das Leben begnadeter Christen, mag es noch so reich sein an Gutem, kann nicht bestehen ohne Vergebung der Sünden.
Zunächst ist es das « Vater unser», in dem wir sozusagen eine tägliche Taufe haben. Das tägliche Gebet, von Jesus selbst gelehrt, tilgt die täglichen Vergehen, da wir täglich darin um Vergebung bitten. «Vergib uns unsere Schulden .. .. !» so beten die, die jüngst erst gläubig geworden, so auch die fortgeschrittenen Gläubigen auf der höchsten Stufe der Vollkommenheit.

Danket also Gott, der der Kirche ein solches Geschenk gegeben hat, dessen wir uns eigens im Credo erinnern, indem wir nach der «Heiligen Kirche» auch den «Nachlass der Sünden» bekennen dürfen !

Sodann sollen wir täglich Buße üben – wiederum nicht nur wegen der Vergänglichkeit und Ungewissheit dieses Lebens und wegen der Plagen eines jeden Tages – die wir in Gottes Namen tragen müssen, bis es vorüber ist, indem wir in männlichem Handeln Gottes harren und «Frucht bringen in Geduld» (Lk 8,15) – sondern auch wegen des Staubes der Welt, der sich uns unterwegs an die Füße heftet, und wegen der Gebrechen, die uns in der Geschäftigkeit des Alltags gleichsam als Fehlbeträge unterlaufen -: mit Gottes Hilfe können wir durch größere Gewinnste Ausgleich schaffen.

Auch das Almosen ist tägliche Reinigung. Zwei Arten von Almosen gibt es: Geben und Vergeben – Geben, was du Gutes hast, Vergeben, was du Böses leidest. Durch Werke der Barmherzigkeit empfehlen wir uns Gott.

Preise Gottes Barmherzigkeit, preise seine Liebe, die Sünden vergibt – aber bringe Ihm ein Opfer! Erbarme selber dich des Mitmenschen, und Gott wird sich deiner erbarmen! Du bist Mensch, und der andere ist Mensch; beide seid ihr armselig – aber Gott ist barmherzig. Barmherzigkeit! Lasst uns Barmherzigkeit üben wegen des Überflusses der Sünden!

Der Anfang der guten Werke ist das Bekenntnis der bösen Werke. Wer seine Sünden bekennt und anklagt, der steht bereits auf Seiten Gottes: Gott klagt deine Sünden an; wenn auch du sie anklagst, hältst du’s mit Gott; du bist wahrhaft: du kommst zum Lichte; du tust dir nicht schön, du schmeichelst dir nicht, du sagst dir keine Artigkeiten. Gott missfällt dein ungutes Leben; gefällt es dir, so steht eine Scheidewand zwischen Ihm und dir; missfällt es aber auch dir, so bist du mit Ihm eins. Das Schuldbekenntnis ist des Menschen Demut; Gottes Barmherzigkeit ist Gottes Hoheit.

Solange wir auf Erden wandeln, ist Demut unsere Vollkommenheit selbst.

Besser auf dem rechten Wege hinken, als festen Schrittes abseits zu wandeln.

Der größte römische Redner, Cicero, sagte von jemand: «Nicht ein Wort hat er gesprochen, von dem er das Bedürfnis gehabt hätte, es zurückzunehmen.» Das erscheint vielleicht als herrliches Lob. In Wirklichkeit passt es besser auf einen Dummkopf als auf den vollkommenen Weisen: Gerade den Erznarren ist es eigen, niemals ein Wort zurücknehmen zu wollen, je weiter sie von aller Vernunft entfernt und: je törichter und geistloser sie sind.

Die Einsichtigen hingegen sind es, die ein unrechtes oder törichtes oder unpassendes Wort bereuen. Ich wage zu sagen, dass es für Hochmütige gut ist, in eine offenbare Sünde zu fallen, damit sie sich selbst missfallen – die durch Selbstgefälligkeit bereits gefallen waren.

Was mich betrifft, so fehlt mir im Leben des Geistes so viel, dass ich leichter aufzählen kann, was ich besitze, als was ich noch zu erwerben mich sehne.

Alle Gebote Gottes sind erfüllt, wenn das, was nicht erfüllt ist, verziehen wird. Es steht geschrieben: «Auch wenn wir sündigen, sind wir Dein!» (Weish 15,2). Wir haben einen guten und großen Herrn, der die Sünde durch Buße heilen kann und will – aber auch einen Herrn, der sich nicht davor scheut, die hartnäckig Bösen zu verderben.”

Es ist noch eine andere Art von Buße; sie ist bei jenen Sünden nötig, die in den zehn Geboten genannt sind, von denen der Apostel sagt: «Die solches tun, werden das Reich Gottes nicht
besitzen» (Gal 5,21).

Es trägt einer eine schwere Schuld: vielleicht handelt es sich um einen Ehebruch oder Mord oder Gottesraub – eine schwere Sache, eine schwere, tödliche Wunde. Aber allmächtig ist der Arzt. Doch bedarf der Mensch in solchen Fällen einer größeren Strenge gegen sich. Er selber muss sich vor die Schranken des  Gerichtes fordern in seinem Geiste. Anklägerin ist die Erinnerung, Zeuge das Gewissen, Gerichtsdiener die Furcht. Und hat der Sünder über sich selbst das strenge, doch heilsame Urteil gesprochen, so komme er zu den Vorstehern, die in der Kirche die Schlüssel verwalten! Im Begriffe, wieder ein guter Sohn zu sein, soll er gemäß der kirchlichen Ordnung von den Vorstehern der heiligen Geheimnisse das Maß seiner Sühne entgegennehmen. Denn es genügt nicht, sich zu bessern und sich vom Bösen loszusagen, wenn man nicht auch für das Geschehene Genugtuung leistet: durch den Schmerz der Buße, durch das demütige Seufzen, durch das Opfer eines zerknirschten Herzens, wozu noch Almosen kommen. Keiner Sünde gegenüber verleugnet die gütige Mutter Kirche ihr Mitleid. Solange einer lebt, lädt ihn Gottes Geduld zur Buße ein. Wie kann nur einer, der in so tödlichen Fesseln der Sünde verwickelt ist, es abweisen oder verschieben oder Bedenken tragen, zur kirchlichen Schlüsselgewalt seine Zuflucht zu nehmen, durch die gelöst wird auf Erden, auf dass gelöst sei im Himmel? Wie kann ein solcher es wagen, einzig im Vertrauen auf den Namen eines «Christen», sich nach diesem Leben Heil zu versprechen, ohne zu zittern vor dem Donnerwort der göttlichen Wahrheit?

Die Kirche, die auf Christus gegründet ist, empfing in Petrus vom Herrn die Schlüssel des Himmelreichs, d.i. Gewalt, Sünden zu binden, zu lösen. Diese Kirche stellt der Apostel Petrus, als
erster der Apostel, in sinnbildlicher Allgemeinheit dar. Denn für sich persönlich war Petrus ein einzelner Mensch, durch Gnade ein einzelner Christ, durch reichere Gnade ein Apostel,
und zwar der erste. Aber als zu ihm gesagt wurde: «Dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben» (Mt 16,19), da bedeutete er die ganze Kirche. Die Kirche kann Sünden vergeben; aber erweckt werden kann ein geistlich Toter nur durch die Stimme des Herrn in seinem Innern; denn solch inneres Werk vermag nur der Herr.

Wir haben lange und böse Jahre der Sünde gelebt. Lasst uns nun wenigstens danach verlangen, Gott zu leben ! Gott ist gut und verzeiht den Bekennenden. Er vergibt; Er spürt nicht auf, was Er strafen soll: Er sucht, was Er vergeben könne. Nur ein Unrecht findet keine Vergebung bei Gott: die Verteidigung der Sünde.

Versöhne Gott durch das Bekenntnis, da du Ihm durch Leugnung nichts verhehlen kannst. Dein Bekenntnis lehrt Ihm nichts, aber es reinigt dich. Darum gehe mit dir ins Gericht in deinem Innern, stelle dich dir gegenüber – stelle dich nicht hinter dich, damit nicht Gott dich vor Sich stelle!

Gott ist gnädig in Seinem Zorne. Er zürnt nur, zu erschüttern, Er übt Gnade, zu heilen. Er zürnt, um den alten Menschen zu töten, Er übt Gnade, um den neuen zu beleben. In einem und
demselben Menschen wirkt Er dies; in einem ist er sowohl der Zürnende wie der Gnädige. Er zürnt gegenüber der Irrung, Er ist gnädig gegenüber der Besserung. «Ich will schlagen und ich will heilen; Ich will töten und will lebendig machen» (Deut 32,39). Denselben Saulus, der nachher Paulus war, warf Er hin und richtete ihn auf – warf hin den Ungläubigen, richtete auf den Gläubigen, warf hin den Verfolger, richtete auf den Apostel.
Du möchtest fliehen vor Gott? Fliehe zu Ihm! Du möchtest fliehen vor dem Zürnenden? Fliehe zum Erbarmenden ! Du versöhnst Ihn, wenn du Seiner Erbarmung vertraust und den Willen hast, in Zukunft das Böse zu meiden, indem du für vergangene Schuld um Vergebung bittest beim Herrn.

«Nahe ist Gott denen, die zerknirschten Herzens sind» (Ps 33,19). Wenn .du dich erniedrigst, neigt Er sich zu dir. Der Zöllner stand von ferne; um so lieber nahte sich ihm Gott. Nicht einmal die Augen wagte er zum Himmel zu erheben – und schon war bei ihm, der den Himmel schuf. Liebe, und Er ist nahe bei dir! Liebe, und Er wohnt in dir!

Als überwunden muss die Sünde gelten, wenn sie von der Gottesliebe überwunden ist. Denen, die Gott lieben, wandelt Er alles in Gutes – dermaßen alles, dass Er ihnen auch ihre Irrungen und Fehler zum Guten ausschlagen lässt; denn sie nehmen zu an Demut und Erkenntnis.