Entstehung des NT
Bibel: Begegnung wird Zeugnis
Hinweise zum Werden und Wesen des Neuen Testamentes
Ansatz und Bedeutung
Das Neue Testament ist das Buch der Weltliteratur, das am meisten abgeschrieben, gedruckt, verbreitet, ausgelegt und erforscht worden ist und für dessen Auslegung über die Welt hin ungezählte Fachleute tätig sind. Auch heute steht dieses Buch im Mittelpunkt des christlichen Glaubens, der Seelsorge, des christlichen Unterrichts wie auch der wissenschaftlichen Erforschung der Glaubensinhalte, der Theologie. Kein Buch der Weltgeschichte hat solchen Einfluss auf die Menschen ausgeübt wie diese Sammlung von 27 sehr verschiedenen Schriften, die oft Gelegenheitsarbeiten darstellen und nicht in klassischem Griechisch abgefaßt sind. Von diesem seiner Verbreitung wie auch seinem Einfluss nach unvergleichlichen Buch sagen die christlichen Kirchen, dass es nicht nur ein Zeugnis menschlichen Geistes sei, sondern dass sich Gottes Gedanken, Gottes Wahrheit, Gottes Leben darin finden, ja dass es selber Umdenken und Glauben hervorzubringen vermag. Die Einleitungswissenschaft hat die Aufgabe, die Voraussetzungen für ein richtiges Verstehen der Schriften vor ihrem historischen Hintergrund zu schaffen.
Das Evangelium vor den Evangelien
Der Niederschrift der Glaubensbotschaft der apostolischen Zeit ging eine längere Zeit der mündlichen Verkündigung voraus. Die Gründe dafür sind vielfältig: Jesus selbst hat nur mündlich verkündigt und seine Jünger beauftragt, sein Werk durch das lebendige Wort fortzuführen. Die neue Situation nach dem Tod und der Auferstehung Christi erforderte eine Anpassung der Verkündigung an die Mentalität der Hörer. Eine weitere Umformung der Evangelienüberlieferung wurde durch die Mission unter Heiden notwendig. Dazu kamen innerkirchliche Bedürfnisse wie Taufunterricht, Gottesdienst und Glaubensbekenntnisse, Fragen der Lebensführung und der Kirchenordnung. All diesen Aufgaben konnte durch eine lebendige, situationsbezogene Verkündigung und Überlieferung entsprochen werden.
Das Überlieferungsgut durchlief also bis zur Niederschrift der heutigen Evangelien und der übrigen Schriften des Neuen Testamentes einen verwickelten Prozess mit mehreren Stufen. Das Vorwort des Lukasevangeliums weist im allgemeinen auf diese Stufen hin (1,14): „Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, ım es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.
Danach lassen sich folgende Stufen unterscheiden:
1. Das Jesusereignis selbst; 2. die Überlieferung der Augenzeugen und Diener des Wortes; 3. der Taufunterricht des Theophilus; 4. erste Niederschriften (‚viele‘) dieser Überlieferung; 5. zuletzt das Evangelium des Lukas.
Man weiß heute, dass das Markusevangelium zu den schriftlichen Vorlagen des Lukasevangeliums gehörte (4. Stufe). Aber auch dem Markusevangelium gingen bestimmte Einzelsammlungen schrifticher Art voraus, so eine Vorform des Passionsberichtes, Sammlungen von Gleichnissen (vgl. Mk Kap. 4) und Sammlungen von Einzelereignissen und Streitgesprächen (Mk 2,1-3,6; 12,1-34).
Diese Stücke lagen Markus bereits in griechischer Sprache vor. Neben dem Markusevangelium ist eine andere schriftliche Quelle in griechischer Sprache, vorwiegend Worte Jesu enthaltend, zu nennen, die Lukas und Matthäus je unabhängig voneinander in erschiedenen Fassungen benützten, die sog. Rede- oder Logienuelle (Q). Aus dieser Quelle stammen die Überlieferung der Bergpredigt, das Vaterunser, zahlreiche Gleichnisse, über Mk Kap. 4 und 12 hinaus sowie eine Anzahl von Streit- und Offenbarungsreden Jesu.
Vor und neben diesen Frühevangelien und den Sammlungen von Einzelüberlieferungen für bestimmte Zwecke scheint es zunächst eine Sammlung von Einzelworten Jesu gegeben zu haben, die für die Kirche, das Gemeindeleben, besonders aber für den einzelnen Christen wichtig waren.
So erinnert Paulus Apg 20,35 in der Abschiedsrede an die Presbyter von Ephesus an ein „außerevangelisches‘’ Herrenwort: „Geben ist seliger als nehmen!“ Und er tut dies mit einer festen Formel: „Es ist nötig, der Worte des Herrn zu gedenken“ (vgl. den 1. Brief des Klemens 13,1, um 96 n. Chr. in Rom entstanden). 1 Kor 7 unterscheidet Paulus deutlich zwischen einem Wort des Herrn zur Ehescheidungsfrage und seinen eigenen Worten. Dem Wort des Herrn erkennt er den Charakter absoluter Verpflichtung zu. Das Wort des Apostels hat demgegenüber eine geringere Autorität.
Die grundlegenden Stücke urchristlichen Verkündigung von Jesus dem Christus, seinem heilbringenden Tod und seiner Auferstehung wurden bereits sehr früh nach der Auferstehung Christi wenigstens mündlich in Form von Bekenntnissätzen und Bekenntnisliedern zusammengefaßt, die sowohl für den Taufunterricht, das Taufbekenntnis wie auch für den Gottesdienst von Bedeutung waren.
Bei dem zuerst genannten Stück, 1 Kor 15,3-7, dessen Urform auf die Urgemeinde in Jerusalem zurückgehen und das nach Auffassung zahlreicher Forscher bereits um 35 n. Chr. dort formuliert worden sein dürfte, ist bemerkenswert, dass Paulus dieses Stück als „sein Evangelium“ bezeichnet, das die Gemeinde wörtlich festhalten muss, will sie das Heil erlangen: „Ich erinnere euch, Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe. Ihr habt es angenommen, es ist der Grund, auf dem ihr steht. Durch dieses Evangelium werdet ihr gerettet, wenn ihr an dem Wortlaut festhaltet, den ich euch verkündigt habe. Oder habt ihr den Glauben vielleicht unüberlegt angenommen? Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe… .‘‘ Dann folgt das Glaubensbekenntnis mit einem Doppelsatz, der von Tod und Auferstehung Jesu handelt und dem eine Zeugenliste angefügt ist. Dieses „Evangelium“ hat Paulus mit den Uraposteln gemeinsam: „Ob nun ich verkündige oder die anderen: das ist unsere Botschaft, und das ist der Glaube, den ihr angenommen habt.” Demnach wusste sich auch Paulus an die bereits formulierte Urform des Evangeliums der Urgemeinde und ihrer Führer gebunden. Bemerkenswert ist, dass nicht die Worte und Taten des historischen Jesus im Mittelpunkt der Botschaft stehen, sondern der Tod und die Auferstehung Jesu.
Die heutigen Evangelien
Die heutigen, ursprünglich griechisch abgefassten Evangelien entstanden alle im letzten Drittel des 1. Jh., Markus zuerst, kurz vor oder nach dem Fall von Jerusalem im Jahr 70, Matthäus Ende der siebziger Jahre, dann das Evangelium des Lukas zu Beginn der achtziger Jahre, kurz danach die Apostelgeschichte, schließlich um 95 das Evangelium des Johannes.
Dass Matthäus und Lukas je unabhängig voneinander das Markusevangelium benutzen, zeigt, dass dieses Evangelium für sie noch kein kanonisches Buch darstellt. Denn ihre Absicht ist zweifellos, den Entwurf des Markus zu vervollständigen und zu verbessern. Daneben existierten noch weitere Evangelienschriften, die sich aber nicht durchsetzen konnten und daher verlorengegangen sind.
Den Hauptanlass für die Entstehung von schriftlichen Evangelien bildet das Interesse der Christen der zweiten und dritten Generation, nach dem Abtreten der Hauptzeugen das Verkündigte und Überlieferte von Jesus von Nazaret zu sammeln, zu sichten, zu bewahren und neu zu erschließen für die eigene Situation. Aus dem 4. Evangelium ergibt sich ein weiteres Motiv, die Abwehr von Irrlehrern, welche die Christusbotschaft zu verfälschen und umzudeuten suchten.
Die einzelnen Evangelien bestanden zunächst unabhängig nebeneinander und waren nur örtlich verbreitet, so Markus in Rom, Matthäus in Palästina und Syrien, Lukas in Griechenland und West-Kleinasien, Johannes in Kleinasien (und Ägypten). Früh kam es dann zu Abschriften und zum Austausch unter den Kirchenprovinzen. Zunächst ist aber die mündliche Überlieferung neben den geschriebenen Evangelien noch lebendig.
Alle Evangelien haben dieselbe Autorität, da sie „durch den einen und beherrschenden Geist dargeboten worden sind“. So kann festgestellt werden, dass sich gegen Ende des 2. Jh. (abgesehen von der syrischen Kirche) das Vierevangelienverzeichnis als autoritative, geschriebene Größe in der Ost- und Westkirche herausgebildet hat. Diese Ordnung hat sich zu Beginn des 5. Jh. auch in Syrien als allein geltende durchgesetzt.
Die Sammlung der paulinischen Schriften
Noch vor der Evangelienordnung bildete sich eine eigene Sammlung der paulinischen Briefe heraus, die der Stellung und Bedeutung ihres Verfassers wie auch des weithin amtlichen Charakters dieser Schreiben wegen ebenfalls verpflichtenden Charakter gewann und in den Gottesdiensten zur Verlesung kam. Das früheste Zeugnis für das Bestehen dieser Sammlung findet sich bereits im NT, dem 2. Petrusbrief. Dort heißt es: „Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben; es steht in allen seinen Briefen, in denen er davon spricht. In ihnen ist manches schwer zu verstehen, und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, verdrehen diese Stellen ebenso wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.“
Die heute erhaltenen zahlreichen Textzeugen des NT stimmen völlig miteinander überein. Keine alte Handschrift bietet den vollständigen Text der Urschrift für das ganze NT oder einer der Schriften. Der Urtext bzw. die Urschriften können nur in kritischer Bemühung wieder rekonstruiert werden.
Die Original- oder Urschriften, die sog. Autographen, waren wohl schon um die Mitte des 2. Jh. verloren. Der frühe Verlust der Autographen ist einerseits im wenig dauerhaften Schreibmaterial, dem sog. Papyrus, zum anderen in der fehlenden Sorge um die Erhaltung der Originale begründet. Den Inhalt galt es festzuhalten, nicht die Originalschriften! Die Originaltexte waren auf zweiseitig beschriebenen Papyrusbogen niedergelegt worden.
Der ursprüngliche Text muss daher aus frühen Abschriften, aus Zitaten und Auszügen dieser Texte bei frühen Kirchenschriftstellern sowie aus frühen Übersetzungen des griechischen Textes erschlossen werden. Diese Aufgabe leistet die sog. Textkritik.
Die Zahl der erhaltenen Handschriften beläuft sich auf 85 Papyri, 268 Majuskel- und 2792 Minuskel-Mss sowie auf 2193 Lektionarien. Durch Neuentdeckungen kommen laufend vor allem weitere Papyri hinzu. Am häufigsten wurden die Evangelien und die Paulusbriefe, am seltensten die Offenbarung abgeschrieben. Etwa fünfzig Handschriften enthalten das ganze NT.
Otto Knoch: Begegnung wird Zeugnis. Werden und Wesen des Neuen Testamentes, 1980. – Der Autor war von 1959 bis 1971 Direktor des Katholischen Bibelwerkes und seit 1971 Professor für biblische Einleitung und Kerygmatik an der Universität Passau.