Francisco de Osuna

Die Demut ist das Tor zum religiösen Leben

Die Heilige Teresa von Avila berichtet in ihrer Autobiographie: »Ich wusste immer noch nicht, wie ich es mit dem Gebet und der inneren Sammlung machen sollte. Denn ich hatte keinen Seelenführer gefunden, der mich verstanden hätte. Darum war ich glücklich über das Buch, es konnte mir als Meister dienen. Ich beschloss, dem darin vorgezeichneten Weg rückhaltlos zu folgen.«

Dieses Buch, »Tercer Abecedario Espiritual«, war der geistliche Bestseller des 16. Jahrhunderts. Sein Verfasser, Francisco de Osuna, kompetent durch eigene Erfahrung, legte in eindringlich-bildhafter Sprache die kontemplative Tradition der Franziskaner erstmalig der Öffentlichkeit vor.

Auch der Mensch unseres Jahrhunderts kann in der hier aus dem Abecedario dargebotenen Auswahl Einweisung in die Kunst des Betens finden, Zugang zu jenem Tiefengebet, das zu einer Versenkung führt, die viele heutzutage nur in den östlichen Religionen zu finden meinen. Doch ist es, fern von Selbsterlösungsstreben, ein christozentrisches Beten. Osuna lehrt eine Kontemplation, die um Notwendigkeit wie Grenzen geistiger »Techniken« weiß und der es um jene Haltung und Hingabe geht, die sich der gnadenvollen Führung Gottes grenzenlos Öffnet.

Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Erika Lorenz.

(Klappentext Herderbücherei)

Kontemplation für alle

Ich schrieb dieses Buch in der Absicht, die Übung der Kontemplation allgemein zugänglich zu machen. Das heißt, ich möchte alle lehren, wie sie zum höchsten HERRN gelangen können, der jeden gern in seine Dienste nähme und mit allen Freundschaft pflegen möchte. …

Einige aber werden es nicht gern sehen, dass ich eine Übung von so feiner Kostbarkeit an Leute weitergebe, die in Sünden verstrickt und in weltliche Geschäfte verwickelt sind. Darauf möchte ich antworten, dass ich nur für solche lehre und schreibe, die, wer auch immer sie seien, Gottes Gebote halten. So suche du hier deinen Frieden und denke nicht, man müsse sich in Logik und Metaphysik auskennen, um sich dem kontemplativen Gebet zu widmen. Die mystische Theologie* findet man in der Schule des Herzens. Im Unterschied zur Schultheologie kann sie daher von jedem Gläubigen erlangt werden, selbst von Weiblein und ungebildeten Laien. Ja, man kann sagen, dass die zur Kontemplation erforderliche Ruhe und Entleerung der Seele geistlichen Würdenträgern und sonstigen Hochgestellten schwerer fällt als einfachen Leuten, die nicht durch Ämter und Pflichten belastet und beunruhigt sind.






* Mystische Theologie = Kontemplation.
Osuna versteht hierunter das schweigende, überwiegend wortlose Gebet, das für Teresa von Avila mit dem »Gebet der Ruhe« einsetzt.

Zwei Arten von Theologie

Nun gibt es zwei Arten von Theologie: die eine ist theoretisch und erforschend – was das Gleiche ist -, die andere ist verborgen und wird in diesem Buch behandelt. Nicht, dass ich mir anmaßte, sie zu lehren, denn das vermag kein Sterblicher, weil Christus sich dieses Amt vorbehielt, um die verborgene Theologie als göttliche Wissenschaft jenen Herzen, in denen er wohnt, als Geheimnis zu offenbaren. Die mystische Theologie, von der wir sprechen, erreicht ihr Ziel nicht durch Räsonnieren und Argumentieren, nicht durch Reden und Überlegen, sondern durch hingebende Liebe und Übung in den geistlichen Tugenden, die die Seele läutern und für Gott bereiten. Sie braucht die theologischen Tugenden und die Gaben des Heiligen Geistes, um die drei Stufen der Läuterung, der Erleuchtung und der Vollkommenheit zu erreichen.

Drei Arten des Betens

Die erste Art des Betens ist die mündliche. …

Die zweite Art des Betens geschieht im Innern unseres Herzens, ohne dass die Lippen Worte formen. Nur das Herz spricht zum Herrn, und in unserem Innern bitten wir ihn um alles, was wir benötigen. So reden wir mit dem Herrn allein…

Die dritte Art des Betens nennt man kontemplatives oder »inneres« Gebet, bei dem sich unser höchster Seelenteil in der reinsten und liebevollsten Weise zu Gott erhebt, getragen von den Flügeln des Wunsches und des in Liebe erstarkten Gefühls. Je größer die Liebe ist, um so weniger Worte bedarf sie, und diese wenigen werden verstehender und wesentlicher sein. Denn wenn die Liebe echt ist, bedarf sie keiner großen Reden, wirkt aber schweigend große Dinge. Sie weiß, dass Gott sie um so uneingeschränkter aufnimmt, als sie sich vom Geschaffenen entfernt und sich ganz in ihm sammelt. Je totaler und leidenschaftlicher ihre Hingabe ist, um so rückhaltloser wird sie von Gott aufgenommen. …

 

Versetze Deinen Verstand tief in Ruhe und Schweigen

Vollkommene Ruhe und Sicherheit des Herzens findet man weniger durch betrachtende Meditation, als vielmehr durch inneres Sichsammeln und Versenken. So wird das Herz ruhig…  Besser ist es, wenn wir alles Begründen und Schlussfolgern beiseite lassen und uns mit dem schlichten Glauben begnügen, der den Menschen in große Geheimnisse einzuführen vermag. Darum sagt Augustinus, man solle sich nicht bemühen, viel zu verstehen, sondern viel zu lieben… Der Kontemplative soll ganz im Augenblick leben…

Freundschaft mit Gott

Man muss um die drei Voraussetzungen wissen, die geistliche Übungen erst möglich machen. Die erste: dass Freundschaft und Verbindung mit Gott in diesem Erdenleben möglich sind. … Ich meine hier jene Verbindung, die Menschen suchen, die sich um das Gebet, um die Gottesliebe bemühen, die realer ist als alle Dinge dieser Welt und so beglückend, dass nichts ihrem Wert gleichkommt.

Gott unser Herr wünscht sich so sehr Freunde, dass er, wie wir in der Heiligen Schrift lesen, dem Sünder entgegeneilt, der wie ein Tagelöhner aus fernen Landen zu ihm kommt. Ja, er eilt ihm entgegen, obwohl selbst eine Mutter sich gewöhnlich nicht erhebt, sondern nur die Arme breitet, um ihr Kind zu empfangen.

Als zweite Voraussetzung musst du wissen, dass, da Gott keine Rangunterschiede macht, dir, o Mensch, diese Verbindung nicht weniger möglich ist als anderen! Bist du doch ebenso nach Seinem Bilde geschaffen wie die übrigen, und ich glaube nicht, dass dein Wunsch nach Glückseligkeit geringer ist als der ihre.

Die dritte Voraussetzung ist, dass, mit welchen Mitteln man auch immer die Verbindung zu Gott anstrebt, man in der Seele eine tiefe Unruhe empfinde, die sie einzig nach Gott suchen lässt: Ohne dieses Suchen und Trachten kann meiner Meinung nach niemand Gott finden, welche Wege auch immer er beschreite. Auch darf man nicht selbst das Wie und das Was bestimmen wollen.

Was ist Demut?

Wer die in diesem Buch behandelten Dinge tief durchdacht hat, könnte mir vorwerfen, dass ich dieses Kapitel nicht an den Anfang setzte. Denn die Demut ist Basis und Unterbau des ganzen Gebäudes, auf sie muss sich jede geistliche Übung stützen, nur aus ihrer Wurzel können dem Baum Früchte erwachsen. Und wenn das Gleichnis der Wurzel schon für die Liebe besetzt ist, so ist Demut der Humus, aus dem sich der Baum ernährt und der ihm Kraft zur Fruchtbildung gibt. Man kann die Demut auch dem Salz vergleichen, denn sie ist für jede Übung notwendig, so wie alle Speisen erst durch das Salz Geschmack gewinnen.

Die Demut ist das Tor zum religiösen Leben, sie gleicht dem ersten Schritte Christi in die Welt. Das heisst für jeden, der ein gottgefälliges Leben führen möchte, dass er für seine Person bescheiden sei und nicht Wunder was erwarte, denn immer war Demut Voraussetzung der Heiligkeit.

Wenn auch die Demut für alles notwendig ist, braucht man sie doch besonders für geistliche Übungen. Der heiligste Mensch hat sie am nötigsten, denn je höher ein Baum wächst oder je mächtiger ein Haus ist, um so tiefer müssen die Wurzeln oder die Baugrube sein. Daher kommt es, dass du bei genauem Hinsehen erkennst, dass die Heiligsten auch die Demütigsten waren.

Ich setze das Kapitel über die Demut bewusst an diese Stelle, weil ich zeigen möchte, wie sehr sie dem Wesen der Kontemplation gleicht. So sehr, dass man auf sie fast wörtlich anwenden kann, was Johannes der Täufer sagte: »Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.« Ist es doch das Ziel der Demut, den Menschen von sich selbst frei zu machen.

Nichts anderes tut die Kontemplation, sie treibt uns die Ich-Erfülltheit aus, damit Gott Raum habe in unserem Herzen; so wird uns auf der einen Seite gegeben, wo uns auf der anderen genommen wird, wie wir auch bei Paulus nachlesen können, der sagte, dass er aus sich zu keinem guten Gedanken fähig sei. Andererseits hebt er jedoch hervor, dass er alles vermöge in dem, der ihn stark macht.

Auf diese Weise wird, wer sich demütigt, bis zum hochheiligen Herzen Gottes selbst erhoben, und wer sich in die Kontemplation zurückzieht, empfängt Gott in reichem Maße. So gilt für beides das Petruswort: »Der verborgene Mensch des Herzens mit seinem unzerstörbaren Wesen, mit seinem ruhigen und maßvollen Geiste, dieser ist wertvoll vor Gott.«

Nicht zufällig sagte Petrus, dass der Mensch des Herzens sich in die Unzerstörbarkeit seines Wesens verborgen habe. Denn, wenn du es recht betrachtest, besteht die wahre Unzerstörbarkeit der Seele in der Demut. In ihr sind die geistlichen Menschen geborgen, so geborgen, dass sie die Türen allen weltlichen Eitelkeiten, allem Lob und aller Ehre verschließen, damit man sie nicht finde.

Man sagt, das Herz des Sünders sei wie ein Gefäß, das einen Sprung hat und das die Fülle Gottes nicht in sich halten kann. Das Herz des Reinen ist dagegen ein heiles Gefäß von der unzerstörbaren Ganzheit der Demut, aus dem kein Tropfen verlorengeht, da es nicht hingeht und Wunder über sich verkündet. Dieses Gefäß des Herzens, das die Demut heil gemacht hat und das in sich birgt, was es zu fassen vermag, ist von besonderer Beschaffenheit: es kann wachsen, ohne brüchig zu werden und so geordnet an Größe zunehmen, dass es mehr Gnade Gottes empfängt. Daran erinnert unsere Überschrift, indem sie sagt: Demut ist die Grundlage geistlichen Wachstums.

Manche verstehen unter Demut eine Enge des Herzens und die platte und kleinmütige Veranlagung eines Menschen, den nur Unwesentliches interessiert. Andere denken, Demut sei kränkliches Aussehen und Niedrigkeit, die sich in Haltung, Kleidung und Benehmen manifestiert. Manche verwechseln die Demut mit Feigheit und Furcht, von denen einige beherrscht sind, so dass sie sich nicht an große Dinge wagen. Schließlich meinen einige, es sei demütig, über keine Fähigkeiten zu verfügen oder die vorhandenen nicht zu nutzen, sondern zu verbergen. Alle diese Auffassungen sind falsch und haben nichts mit Demut zu tun.

Damit du nun eine Ahnung von der Majestät dieser Eigenschaft bekommst, musst du wissen, dass Demut und Hochherzigkeit zwei einander sehr liebende Schwestern und Gefährtinnen sind, so dass sich die eine nicht ohne die andere findet. Sie sind die beiden Flügel, mit denen die Braut, das heisst die Seele, zu Gott auffliegt und sich in die Einsamkeit der Kontemplation begibt. So wie die Armut des Geistes nicht bei der Missachtung irdischer Dinge stehen bleibt, sondern fortschreitet zum Reichtum des Überirdischen, so begnügt sich die Demut nicht mit der Verachtung von Ehren, sondern schreitet fort zur Erhabenheit des Spirituellen.

Erhebe, Bruder, deine Augen, um diese große Tugend der Demut zu erkennen. Sieh dieses Senfkorn, das du in den Garten deines Bewusstseins säen sollst. Es ist, wie die Heilige Schrift sagt, klein in den Augen der Menschen, in Gottes Sicht aber ist es größer als alle Pflanzen und alle geistlichen Übungen, so dass du dich froh bewegen kannst in den Zweigen dieses Baumes, das heisst auf den geistlichen Stufen. Aber ich habe Zweifel, ob du bis zur Spitze gelangen kannst.
Sie ist sehr hoch und unter allen reinen Kreaturen konnte nur jene sie erreichen, die sich in ihrer Demut »Magd des Herrn« genannt hatte, und die Hochherzigkeit besaß, den ewigen Sohn Gottes auf natürliche Weise als ihr Kind gebären zu wollen. Darüber erschrak Bernhard so sehr, dass er ausrief: »Welch eine Demut! So erhaben, dass sie Ehren nicht zu schätzen weiss und Ruhm nicht zurückweisen kann.«

Aus dem Gesagten ersiehst du, wie es ist mit dem Wachsen der Demut. Auf der einen Seite bedeutet sie eine Verminderung, auf der anderen Seite aber, wenn sie echt ist, eine große Erhabenheit. Denn, so sagt Augustinus, der Grad ihrer Niedrigkeit ist das Maß ihrer Größe. Je mehr sie sich erniedrigt, um so größer ist sie, denn ihre Höhe und ihre Tiefe sind gleich, beide müssen zusammen wachsen, um zu überzeugen. Das Wachstum deiner Demut beweist zugleich die Abnahme deines Ego. Fortschritt bedeutet Wachstum, aber wundere dich nicht, wenn dein Fortschritt deine Minderung genannt wird. Denn Demut ist eine Fackel, deren Licht verzehrt. Wenn du vollkommen geworden bist, wird all dein Dünkel dahin sein.

(Aus: Francisco de Osuma: Versenkung. Weg und Weisung des kontemplativen Gebetes. Übersetzt und eingeleitet von Erika Lorenz, Herderbücherei, S. 103 –107)

Franz von Assisi