Franz von Sales: Philothea (Auszüge)

Franz von Sales: Ausgewählte Texte aus „Philothea“

Gute Tipps für ein gelingendes geistliches Leben im Alltag

Vorwort

Philothea bedeutet ja „Gott liebende Seele“. Mit meiner Anleitung wende ich mich also an einen Menschen, der fromm sein will und nach der Gottesliebe strebt. Im ersten Teil bemühe ich mich, durch Erwägungen und Übungen den einfachen Wunsch dieses Menschen in einen festen Entschluss umzuwandeln.

Durch die heiligen Sakramente steigt Gott in seiner Güte zu uns herab, durch das Gebet zieht er uns zu sich empor. Darauf verwende ich den zweiten Teil meines Buches.
Im dritten Teil zeige ich ihm, wie er sich in den verschiedenen Tugenden üben soll, die seinem inneren Fortschritt besonders förderlich sind.

Im vierten Teil decke ich ihm einige Fallstricke seiner Feinde auf und zeige ihm, wie er ihnen entgehen und sie überwinden kann.
Im fünften Teil schließlich lade ich diesen Menschen ein, ein wenig in die Einsamkeit zu gehen.
(Vorwort)

 

Was ist Frömmigkeit?
Es malt sich jeder gern seine eigene Frömmigkeit aus, wie er sie wünscht und sich vorstellt. Wer gern fastet, hält sich für fromm, weil er fastet, obgleich sein Herz voll Rachsucht ist. Vor lauter Mäßigkeit wagt er nicht, seine Zunge mit Wein, ja nicht einmal mit Wasser zu benetzen, aber er schrickt nicht davor zurück, sie in das Blut seiner Mitmenschen zu tauchen durch Verleumdung und üble Nachrede. – Ein anderer hält sich für fromm, weil er täglich eine Menge Gebete heruntersagt, obwohl er nachher seiner Zunge alle Freiheit lässt für Schimpfworte, böse und beleidigende Reden gegen Hausgenossen und Nachbarn. – Der eine entnimmt seiner Geldbörse gern Almosen für die Armen, aber er kann aus seinem Herzen nicht die Liebe hervorbringen, seinen Feinden zu verzeihen. – Der andere verzeiht wohl seinen Feinden, seine Gläubiger befriedigt er aber nur, wenn ihn das Gericht dazu zwingt.
Gewöhnlich hält man alle diese Menschen für fromm, sie sind es aber keineswegs. Die wahre und lebendige Frömmigkeit setzt die Gottesliebe voraus; ja sie ist nichts anderes als wahre Gottesliebe.

Frömmigkeit ist nichts anderes als Gewandtheit und Lebendigkeit im geistlichen Leben. Sie lässt die Liebe in uns oder uns in der Liebe tätig werden mit rascher Bereitschaft und Freude. Die Liebe bewirkt, dass wir alle Gebote Gottes beobachten; die Frömmigkeit, dass wir sie hurtig und bis ins kleinste erfüllen.

Du sehnst dich nach Frömmigkeit, denn als Christ weißt du, dass sie eine Tugend ist, die der göttlichen Majestät überaus gefällt. Kleine Fehler am Beginn eines Unternehmens wirken sich aber immer schlimmer aus, je weiter es fortschreitet; am Ende sind sie nicht wieder gutzumachen. Deshalb musst du zunächst wissen, was die Tugend der Frömmigkeit ist … Die wahre und lebendige Frömmigkeit setzt die Gottesliebe voraus; ja sie ist nichts anderes als wahre Gottesliebe.
(Philothea I,1)

Eigenart und Wert der Frömmigkeit
Frömmigkeit nimmt den Armen ihren Kummer, den Reichen die Gier, den Bedrängten die Trostlosigkeit, den vom Schicksal Begünstigten die Anmaßung; sie überwindet die Traurigkeit der Einsamen und die Ausgelassenheit in der Gesellschaft. Sie ist wie das Feuer im Winter, wie kühler Tau im Sommer. Sie weiß im Reichtum zu leben und sich in Armut zu schicken; Achtung und Verachtung sind ihr in gleicher Weise nützlich; sie nimmt mit gleicher Gelassenheit Freude und Schmerz hin. Zu all dem verleiht sie der Seele eine wunderbare Anmut.
(Philothea I, 2)

Frömmigkeit gibt allem Glanz

Glaube mir, die Frömmigkeit ist das Schönste, was es gibt. Sie ist die Königin der Tugenden, die Vollendung der Liebe. Ist die Liebe eine Pflanze, dann ist die Frömmigkeit ihre Blüte; ist sie ein Edelstein, dann ist die Frömmigkeit sein Glanz; ist sie ein kostbarer Balsam, dann ist die Frömmigkeit dessen Duft, ein lieblicher Duft, der die Menschen erquickt und die Engel erfreut.
(Philothea I,2)
 
Frömmigkeit passt zu jedem
Echte Frömmigkeit verdirbt nichts; im Gegenteil, sie macht alles vollkommen. Verträgt sie sich nicht mit einem rechtschaffenen Beruf, dann ist sie gewiss nicht echt … Die echte Frömmigkeit schadet keinem Beruf und keiner Arbeit; im Gegenteil, sie gibt ihnen Glanz und Schönheit … So wird auch jeder Mensch wertvoller in seinem Beruf, wenn er die Frömmigkeit damit verbindet. Die Sorge für die Familie wird friedlicher, die Liebe zum Gatten echter, der Dienst am Vaterland treuer und jede Arbeit angenehmer und liebenswerter.
Es ist ein Irrtum, ja sogar eine Irrlehre, die Frömmigkeit aus der Kaserne, aus den Werkstätten, von den Fürstenhöfen, aus dem Haushalt verheirateter Leute verbannen zu wollen.
(Philothea I,3)
 
Der geistliche Begleiter
Willst du dich mit Vorbedacht auf den Weg der Frömmigkeit begeben, so suche dir einen vortrefflichen Mann als Führer und Berater. Das ist der dringlichste Rat, den ich dir geben kann … „Ein treuer Freund“, sagt die Heilige Schrift, „ist ein starker Schutz; wer ihn findet, hat einen Schatz gefunden. Ein treuer Freund ist ein Balsam für das Leben und für die Unsterblichkeit; wer Gott fürchtet, findet ihn“ (Sir 6,14ff) … Bitte Gott darum, und hast du ihn gefunden, so danke der Majestät Gottes. Bleib bei ihm und suche nicht nach einem anderen. Wandle vertrauensvoll in aller Einfalt und Demut. Dann wird deine Reise glücklich sein.
(Philothea I,4)
 
Mut und Geduld
Bei diesem Beginnen musst du also Mut und Geduld haben. Wie bedauernswert sind doch Menschen, die nach anfänglichem Bemühen um die Frömmigkeit merken, dass sie noch mit verschiedenen Unvollkommenheiten behaftet sind, darüber unruhig, verwirrt und mutlos werden und nahe daran sind, alles aufzugeben und sich wieder der Sünde zu überlassen! Andererseits ist für manche Menschen eine entgegengesetzte Versuchung gefährlich; sie reden sich selbst ein, dass sie schon vom ersten Tag an von allen Unvollkommenheiten frei seien; sie glauben fertig zu sein, ehe sie richtig angefangen haben; sie setzen zum Flug an, bevor ihnen Flügel gewachsen sind. In welcher Gefahr eines Rückfalls schweben doch solche Menschen, weil sie sich zu früh den Händen des Arztes entzogen haben!
(Philothea I,5)
 
Nur nicht den Mut verlieren
Regen wir uns also nicht auf über unsere Unvollkommenheiten: unsere Vollkommenheit besteht eben darin, dass wir die Unvollkommenheiten bekämpfen. Unser Sieg besteht nicht darin, dass wir sie nicht wahrnehmen, sondern darin, dass wir uns ihnen nicht beugen. Der aber beugt sich ihnen nicht, der sie unangenehm empfindet … Eines ist also notwendig: den Mut nicht verlieren! „Befreie mich, Herr, von Feigheit und Mutlosigkeit“ (Ps 55,17f), betete David. Es ist ein Glück für uns, dass wir in diesem Krieg immer Sieger sind, solange wir nur kämpfen wollen.
(Philothea I,5)
 
Das Bußsakrament
Die erste Reinigung, der wir uns unterziehen müssen, ist die von der Sünde. Das Mittel dazu ist das heilige Bußsakrament. Suche dir dafür den besten Beichtvater, den du finden kannst … [Die Beichte] führt uns … zur Selbsterkenntnis, erweckt in uns … Bewunderung für die Barmherzigkeit Gottes, die mit solcher Langmut auf unsere Bekehrung gewartet hat; sie beruhigt das Herz, nimmt eine Last von der Seele, lässt gute Vorsätze reifen … Durch den Entschluss, ein frommes Leben zu führen, soll ja die vollständige Erneuerung des Herzens und die Hingabe der ganzen Seele an Gott erzielt werden. Du siehst also, dass ich dir mit Recht zur [Beichte] rate.
(Philothea I,6)
 
Feierlicher Entschluss
Ich wende mich meinem gütigen und barmherzigen Gott zu und bin unwiderruflich entschlossen, ihm zu dienen und ihn zu lieben, jetzt und ewig. Ich weihe ihm zu diesem Zweck meinen Geist mit all seinen Fähigkeiten, meine Seele mit all ihren Kräften, mein Herz mit all seiner Liebe, meinen Leib mit all seinen Sinnen. Ich erkläre hiermit, dass ich nie mehr eine meiner Fähigkeiten gegen seinen göttlichen Willen und seine alles überragende Majestät missbrauchen will. Im Geiste bringe ich mich ihm zum Opfer. Auf ewig will ich ihm treu und als sein Geschöpf redlich ergeben sein.
(Philothea I,20)
 
Quelle Gebet
Nichts ist geeigneter, unseren Verstand von Unwissenheit und unseren Willen von seinen verderbten Anhänglichkeiten zu reinigen, als das Gebet, das unseren Verstand in die Helle göttlichen Lichtes rückt und unseren Willen der Wärme göttlicher Liebe aussetzt.
Das Gebet ist die segensreiche Quelle, deren belebende Wasser die Pflänzchen unserer guten Wünsche zum Grünen und Blühen bringen, jeden Makel von unserer Seele hinwegspülen und das von Leidenschaft erhitzte Herz abkühlen.
(Philothea II,1)
 
Stoßgebete – Herzensgebete
In dieser Übung der geistlichen Einsamkeit und der kurzen Herzenserhebungen zu Gott besteht das große Werk der Frömmigkeit. Sie kann im Notfall alle übrigen Gebete ersetzen, ihre Unterlassung kann aber kaum durch irgendetwas gutgemacht werden. Ohne sie kann man nicht gut ein beschauliches Leben führen, ohne sie wird man auch die Pflichten des täglichen Lebens nur sehr mangelhaft erfüllen. Ohne sie wird Ruhe zur Trägheit und Arbeit zur Last. Deshalb beschwöre ich dich, wende dieser Übung die größte Sorgfalt zu und lasse niemals davon ab. (Philothea II,13)
 
Eucharistie
Ich habe dir noch nichts gesagt von der Sonne der geistlichen Übungen: vom hochheiligen und erhabenen Messopfer, dem Mittelpunkt der christlichen Religion, dem Herz der Frömmigkeit, der Seele der Andacht; ein unfassbares Geheimnis, das den Abgrund der göttlichen Liebe umfasst, durch das Gott sich wirklich mit uns vereinigt und uns seine Gnaden und Gaben in herrlicher Fülle spendet. (Philothea II,13)
 
Welche Tugenden brauche ich
Unter den Tugenden müssen wir jene vorziehen, die den Pflichten unseres Berufes entsprechen, nicht jene, die uns mehr zusagen. … Jeder Beruf verlangt besondere Tugenden; ein Bischof muss andere Tugenden pflegen als ein Fürst, andere der Soldat als die verheiratete Frau, andere eine Witwe. Alle müssen zwar alle Tugenden üben, aber nicht in gleicher Weise; jeder soll sich vielmehr besonders um jene bemühen, die der Lebensweise entsprechen, zu der er berufen ist. (Philothe III,1)
 
Kleine Tugenden
Ich füge noch hinzu, dass wir nur unternommen haben, anständige und fromme Menschen zu werden; darauf müssen wir hinarbeiten. Gefällt es Gott, uns zur Vollkommenheit der Engel zu erheben, dann werden wir auch gute Engel sein. Vorläufig aber üben wir uns einfach, demütig und eifrig in den kleinen Tugenden, deren Erwerb der Herr unserer Sorge und unserem Eifer anvertraut hat, in Geduld, Herzensabtötung, Demut und Armut, im Gehorsam, in der Keuschheit, in der Liebe zum Nächsten, im Ertragen unserer Fehler, in der Sorgfalt und im heiligen Eifer. (Philothea III,2)
 
Bescheidenheit
Echten Wert erkennt man wie echten Balsam. Man prüft den Balsam, indem man ihn ins Wasser tropfen lässt; sinkt er unter und bleibt am Boden, so gilt er als besonders fein und kostbar. Will man erkennen, ob ein Mensch wirklich weise, gelehrt, hochherzig und edel ist, dann muss man prüfen, ob diese Eigenschaften mit Demut, Bescheidenheit und Duldsamkeit gepaart sind, denn dann sind sie echte Werte. Wenn sie aber obenauf schwimmen, wenn sie zur Schau gestellt sein wollen, dann werden sie umso weniger echte Werte sein, je mehr sie scheinen wollen. (Philothea III,4)
 
Sanftmut gegen sich selbst
Glaube mir, ruhige und herzliche Ermahnungen des Vaters vermögen ein Kind viel eher zu bessern als Zorn und Wutausbrüche. So ist es auch bei uns. Haben wir einen Fehler begangen, dann mahnen wir unser Herz ruhig und liebevoll …: „Mein armes Herz, jetzt bist du wieder in die Grube gefallen, die wir zu meiden so entschlossen waren. Lass uns wieder aufstehen … Rufen wir die Barmherzigkeit Gottes an, vertrauen wir auf sie; sie wird uns helfen, in Zukunft tapferer zu sein. … Mut! Seien wir von jetzt an recht auf der Hut; mit Gottes Hilfe wird es gehen.“ (Philothea III,9)
 
Ohne Hast und Eile
Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt, die unsere Arbeit auszeichnen sollen, sind wohl zu unterscheiden von Unruhe, Ängstlichkeit und Übereilung … Sei sorgfältig und gewissenhaft in allen Obliegenheiten. Gott hat sie dir anvertraut und will, dass du große Sorgfalt darauf verwendest. Vermeide aber dabei jede Ängstlichkeit und Aufregung, d. h. verrichte sie ohne Unruhe, ohne ängstliche Besorgnis oder hitzigen Eifer. Verrichte deine Arbeit niemals hastig, denn jede aufgeregte Hast trübt Vernunft und Urteil; damit hindert sie uns, eine Sache gut zu machen. (Philothea III,10)
 
Vertrauen auf Gott
Stütze dich in allen Arbeiten völlig auf die Vorsehung Gottes; nur sie gibt deinen Plänen das Gelingen. Trage ruhigen Gemütes deinen Teil dazu bei und sei überzeugt, wenn du dein ganzes Vertrauen auf Gott gesetzt hast, wirst du den besten Erfolg haben, mag er nun deinem menschlichen Ermessen gut oder schlecht erscheinen. Mache es wie die kleinen Kinder: Mit der einen Hand halten sie sich am Vater fest, mit der anderen pflücken sie Erdbeeren und Brombeeren am Wegrain. So sammle und gebrauche auch du die irdischen Güter mit der einen Hand, mit der anderen halte dich an der Hand des himmlischen Vaters fest.
(Philothea III,11)
 
Auf das Herz kommt es an
Nie habe ich das Vorgehen jener billigen können, die bei Äußerlichkeiten beginnen, um den Menschen zu bessern: bei Haltung, Kleidung oder Frisur. Mir scheint im Gegenteil, man muss beim inneren Menschen anfangen. … Weil das Herz die Quelle unserer Handlungen ist, werden diese so sein, wie unser Herz beschaffen ist. … Darum möchte ich vor allem das erhabene und heilige Wort „Es lebe Jesus!“ in dein Herz schreiben. Ich bin sicher, dann wird dein Leben … als Früchte nur Handlungen hervorbringen, denen dieses Heilswort aufgeprägt und eingegraben ist … Mit einem Wort: Wer das Herz des Menschen gewonnen hat, besitzt den ganzen Menschen.
(Philothea III,23)
 
Erholung
Geist und Körper verlangen von Zeit zu Zeit nach Entspannung durch irgendeine Erholung. Cassian erzählt, ein Jäger habe den heiligen Evangelisten Johannes eines Tages mit einem Rebhuhn auf dem Arm angetroffen, das er streichelte und mit dem er spielte; der Jäger konnte nicht verstehen, wie ein solcher Mann seine Zeit mit so gewöhnlichen Dingen vertun könnte, worauf der Heilige ihn fragte: „Warum trägst du deinen Bogen nicht immer gespannt?“ Der Jäger antwortete: „Wäre der Bogen immer gespannt, dann hätte er nicht mehr die Kraft zurückzuschnellen, wenn man ihn braucht.“ – „Wundere dich also nicht“, erwiderte der Apostel, „wenn auch ich die angestrengte Aufmerksamkeit des Geistes ein wenig vermindere, um mich zu erholen; nachher kann ich mich umso frischer der Betrachtung widmen.“ Es ist gewiss keine gute Eigenschaft, wenn man so hart, ungeschliffen und ungesellig ist, dass man weder sich noch anderen irgendeine Erholung gönnen will.
(Philothea III,31)
 
Schritt für Schritt
Der Berg der christlichen Vollkommenheit kommt dir aber so hoch vor. „Mein Gott“, sagst du, „wie kann ich denn da hinaufsteigen?“ Mut! … [Wir sind] noch klein in der Frömmigkeit, wir vermögen noch nicht unserem Wunsch zu folgen und zum Gipfel der christlichen Vollkommenheit zu fliegen, aber wir beginnen, uns allmählich umzuformen durch unsere Wünsche und Entschlüsse, die Flügel beginnen zu wachsen und es ist zu hoffen, dass auch wir eines Tages fliegen können.
(Philothea IV,II)
 
Die Kleinigkeiten sind das Problem
Wölfe und Bären sind gewiss gefährlicher als Mücken, sie plagen, ärgern und reizen uns aber bestimmt nicht so zur Ungeduld. Es ist nicht schwer, sich eines Mordes zu enthalten, wohl aber, alle kleinen Zornausbrüche zu unterdrücken, wozu fast jeden Augenblick Gelegenheit ist. … Mit einem Wort: diese kleinen Versuchungen zu Zorn, Argwohn, Eifersucht, Neid, Liebeleien, Narreteien, Eitelkeit, Doppelzüngigkeit und Geziertheit, unanständigen Gedanken, das sind die ständigen Plagen auch solcher Menschen, die am meisten zum frommen Leben entschlossen sind. … Darum wiederhole ich: Wir sind entschlossen, schwere Versuchungen tapfer zurückzuweisen, wenn sie uns überfallen sollten, inzwischen aber wollen wir uns der kleineren und schwächeren Angriffe sorgfältig erwehren. (Philothea IV,8)
 
Auf Kurs bleiben
Mag das Schiff diesen oder jenen Kurs nehmen, mag es nach Westen oder Osten, nach Süden oder Norden steuern, mag dieser oder jener Wind es treiben, die Kompassnadel wird doch stets nach Norden zeigen. Mag nicht nur um uns herum, sondern auch in uns alles drunter und drüber gehen, mag unsere Seele traurig oder vergnügt und fröhlich, verbittert und unruhig oder friedlich, im Licht oder in der Finsternis der Versuchung, mag sie ruhig und voll Freude oder voll Ekel sein, in Trockenheit oder Seligkeit, mag die Sonne sie versengen oder der Tau sie erfrischen: immer soll unser Herz, unser Geist und der höhere Wille gleich der Kompassnadel unablässig auf die Gottesliebe als ihr einziges und höchstes Gut schauen und ausgerichtet sein.
(Philotha IV,13)
 
Alle Jahre wieder
Es gibt keine noch so gute Uhr, die man nicht täglich aufziehen müsste. Außerdem muss man sie wenigstens einmal im Jahr zerlegen, den Rost entfernen, verbogene Teile geradebiegen, abgenützte erneuern. So muss auch jeder, der für seine Seele Sorge trägt, sie am Morgen und am Abend durch die beschriebenen Übungen zu Gott erheben, außerdem oft ihren Zustand überprüfen, um sie wieder aufzurichten und instand zu setzen. Darüber hinaus muss er sie jedes Jahr gleichsam auseinander nehmen, d. h. die Empfindungen und Leidenschaften einzeln prüfen und die Fehler verbessern, die etwa vorliegen. … Die alten Christen pflegten diese Erneuerung mit großer Sorgfalt am Jahrestag der Taufe des Herrn vorzunehmen; nach dem Bericht des hl. Gregor von Nazianz erneuerten sie an diesem Tag ihr Taufgelübde. Tun wir desgleichen, bereiten wir uns eifrig darauf vor und erneuern wir es mit allem Ernst.
(Philothea V,1)

Prüfung der Haltung gegen sich selbst
1. Wie liebst du dich selbst?
2. Hältst du gute Ordnung in der Liebe zu dir selbst? Nur die ungeordnete Selbstliebe schadet uns.
3. Wie liebst du dein eigenes Herz?
4. Wofür hältst du dich vor Gott?
5. Wie verhält sich deine Zunge? Prahlst du nicht offen oder versteckt? Schmeichelst du dir nicht selbst, wenn du von dir sprichst?
6. Was die Handlungen betrifft, gibst du dich nicht Vergnügungen hin, die deiner Gesundheit schaden?
(V, 5)

Prüfung der Seelenhaltung gegen den Nächsten
Eheleute müssen einander lieben, ihre Liebe muss sanft und ruhig, fest und beharrlich sein, vor allem deshalb, weil Gott es so befiehlt und will. Das gleiche gilt von der Liebe zu den Kindern, den nächsten Verwandten und Freunden, je nach ihrem Rang.
Aber sprechen wir nun ganz allgemein: Wie verhält sich dein Herz gegen den Nächsten? Liebst du ihn herzlich und aus Liebe zu Gott? Um dies genau zu erkennen, stelle dir bestimmte unangenehme, mürrische Menschen vor. An solchen übt man bestimmt die Liebe zu Gott im Nächsten; mehr noch bei Menschen, die uns durch Wort und Tat Böses zugefügt haben. Prüfe dich genau, ob dein Herz gegen sie in Ordnung ist, ob es dir sehr schwer fällt, sie zu lieben.
Bist du schnell zu lieblosen Reden bereit, besonders über Menschen, die dir nicht gut gesinnt sind? Fügst du dem Nächsten Böses zu, unmittelbar oder mittelbar? Wenn du nur einigermaßen nach der Vernunft urteilst, wirst du das leicht erkennen.
(V, 6)

Welche Anhänglichkeiten hemmen dein Herz, welche Leidenschaften nehmen es ein? Worin ist es besonders entgleist? Man erkennt den Zustand der Seele an den Leidenschaften, indem man sie der Reihe nach abtastet. Ein Lautenspieler zupft an allen Saiten und stimmt die falsch klingenden richtig, indem er sie entweder spannt oder nachlässt. So prüfen wir nacheinander die Liebe, den Hass, die Wünsche, die Furcht, die Hoffnung, die Traurigkeit und die Freude unserer Seele: Stimmen sie nicht gut zur Melodie, die wir spielen wollen, d. h. zur Ehre Gottes, dann können wir sie mit seiner Gnade und nach dem Rat unseres geistlichen Vaters darauf abstimmen, damit sie harmonisch zusammenklingen.
(V, 7)

Danke Gott für die kleine Besserung, die du in deinem Leben seit deinem großen Entschluss festgestellt hast; erkenne, dass einzig seine Barmherzigkeit sie in dir und für dich bewirkt hat.
Demütige dich tief vor Gott. Bekenne, dass es deine Schuld war, wenn du nur wenig vorangekommen bist, weil du nicht treu, mutig und beharrlich den Einsprechungen, Erleuchtungen und Regungen entsprochen hast, die er dir im Gebet und sonst gab.
Versprich, ihn immer zu preisen für die Gnaden, die er dir gab, um dich von deinen Neigungen zu befreien und dir zu dieser kleinen Besserung zu verhelfen.
Bitte ihn um Verzeihung für die Untreue, mit der du seine Güte beantwortet hast. Opfere ihm dein Herz auf, dass es ganz ihm gehöre. Bitte ihn, dich ganz treu zu machen.
Rufe die Heiligen an, die allerseligste Jungfrau, deinen Schutzengel und deinen Namenspatron, den hl. Josef und andere Heilige.
(V, 8)

Die Erhabenheit der Tugenden
Erwäge, dass einzig die Tugenden und die Frömmigkeit deiner Seele in diesem Leben Zufriedenheit schenken können. Sieh, wie schön sie sind. Vergleiche die Tugenden mit den Lastern, die ihnen entgegengesetzt sind: die Geduld mit der Rachsucht, die Sanftmut mit Zorn und Ärger, die Demut mit Frechheit und Ehrsucht, die Freigiebigkeit mit dem Geiz, die Liebe mit dem Neid, die Mäßigkeit mit der Ausschweifung.
Die Tugenden haben die wundersame Wirkung, dass ihre Übung die Seele mit unvergleichlicher Wonne und Freude erfüllt, während die Laster sie erschöpft und zerschlagen zurücklassen. Fangen wir also an! Warum wagen wir nicht den Aufstieg zu diesen Herrlichkeiten?
Wer von den Lastern nur einige hat, ist unzufrieden, wer viel davon hat, erst recht. Wer aber von den Tugenden nur ein wenig besitzt, empfindet daran schon Freude, die immer größer wird, je weiter er vorankommt. Frommes Leben, wie schön, wie wohltuend und lieblich bist du! Du milderst die Trübsal und vermehrst die Schönheit der Freuden. Ohne dich ist das Gute wertlos und die Vergnügungen sind voll Unruhe, Verwirrung und Schwäche. Wer dich kennt, kann wohl mit der Samariterin sagen: „Herr, gib mir von diesem Wasser!“ (Joh 4,15).
(V, 11)

Denke darüber nach, wie sehr Gott dich liebt
Erwäge die ewige Liebe, die Gott uns erwiesen hat. Schon ehe unser Herr und Heiland am Kreuz für uns litt, warst du durch Gottes unendliche Güte Gegenstand seiner ewigen Ratschlüsse. Gott liebte dich; wann begann er dich zu lieben? Als er begann, Gott zu sein, d. h. da er immer war, ohne Beginn und Ende, hat er dich immer und ewig mit grenzenloser Liebe geliebt. Von Ewigkeit hält er die Gnaden und Gunsterweise, die er dir gab, für dich bereit. Er sagt es durch den Propheten: „Ich habe dich geliebt (er spricht zu dir, als wärest du allein) mit ewiger Liebe; deshalb habe ich dich an mich gezogen, da ich mich deiner erbarmte“ (Jer 31,3). Er hat also unter anderem auch daran gedacht, dir den Entschluss einzugeben, dass du ihm dienst.
(Philothea V,14)

Einwände gegen diese Anleitung
Die Welt wird sagen, dass ich bei allen die Gabe des innerlichen Gebetes voraussetze; die besitze aber nicht jeder, also könne diese Anleitung nicht allen dienen. Gewiss habe ich das vorausgesetzt; es ist auch wahr, dass nicht jeder die Gabe des innerlichen Gebetes besitzt. Es ist aber ebenso wahr, dass fast jeder sie besitzen kann, sogar ungebildete Menschen, wenn sie einen guten Seelenführer haben und sich in dem Maß um sie bemühen, wie es diese wichtige Sache verdient.
(V, 17)